Das Kind und der Zins: Geschichte einer Enttäuschung

Fürters Hintergrund
3 min readDec 26, 2022

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Ich wollte sie haben, diese Zinsen. Die Hamburger Sparkasse hatte damals, Ende der 70er Jahre, eine Mischung aus Lotterie und Sparvertrag im Programm. Für ein paar Mark konnte man Lose kaufen und hatte wöchentlich die Chance auf Geldgewinne, die bis zu 10.000 Mark gingen, bei mir allerdings nie über 5 Mark hinaus kamen. Ein Teil des Lospreises ging automatisch auf mein rotes Haspa-Sparbuch. Meine Mutter meinte: “Das gibt sogar Zinsen”. Meine kindliche Aufmerksamkeit war geweckt.

“Wann wird es denn diese Zinsen geben?”, wollte ich wissen. “Zum Jahresende”, hieß es. Nun ist Geduld bekanntlich keine Stärke der Kinder, aber was blieb mir schon anderes übrig? Das Weihnachtsfest verging, das neue Jahr brach an, es muss irgendwann in den späten 70ern oder frühen 80ern gewesen sein. Aber was war nun mit den Zinsen? Ich hatte noch immer keine bekommen, obwohl sie mir ja versprochen wurden. Meine Geduld war erschöpft. Ich erinnere es nicht genau, vielleicht habe ich auch gequengelt. Meine Mutter meinte jedenfalls schließlich, sie könnte zur Filiale gehen und sich die Zinsen für das Sparbuch holen. Zur Filiale kam man damals noch zu Fuß. Sie lag in einem der äußeren Stadtteile von Hamburg quasi um die Ecke. Inzwischen ist sie natürlich lange der Ausdünnung des Filialnetzes zum Opfer gefallen.

Nach einer halben Stunde ansteigender Vorfreude kam meine Mutter wieder und zeigte mir voller Stolz das Sparbuch. Tatsächlich wurde dort in den Innenseiten meines roten Büchleins eine zusätzliche Spalte mit einem (kleinen) Zinsertrag aufgeführt. Ich war allerdings schwer enttäuscht. Nicht wegen des geringen Betrags. Dass Zinsen unterschiedlich hoch sein können und auf dem Sparbuch ohnehin seit jeher nur eine Abfederung des inflationsbedingten Kaufkraftverlustes darstellen, all das war mir damals vollkommen unbekannt.

Meine Enttäuschung hatte einen anderen Grund. Ich war einer Verwechslung aufgesessen. Ein paar Monate zuvor war ich mit meinem Vater in der Hamburger City zum Einkaufen. Er kaufte etwas, ich erinnere nicht mehr was. Wie heute habe ich aber das Bild vor mir, dass er kein Geld über den Ladentisch schob, sondern einen kleinen Block herausholte auf dem er ein paar Eintragungen vornahmen. Dann riss er das erste Blatt des Blocks ab und überreichte dieses dem Verkäufer. Im Gegenzug konnte mein Vater die Ware mit nach Hause nehmen. Die Bezahlung erfolgte, das weiß ich heute, mit einem “Scheck”. Der Scheck war damals ein weitverbreitetes Zahlungsmittel, das es zwar theoretisch noch gibt, welches aber praktisch dem Fortschritt zum Opfer gefallen ist.

Für ein Kind ohne größere Finanzerfahrung war der bargeldlose Geldverkehr ein geradezu mystisches Erlebnis. Man konnte im Laden etwas bekommen, ohne dafür, so stellte es sich für mich dar, bezahlen zu müssen. Der Erfüllung ungedeckter kindlicher Konsumwünsche waren (in meiner Phantasie) keine Grenzen mehr gesetzt. Ich hielt das, was mein Vater nutzte, irrtümlich für “Zinsen” und war natürlich auch daran interessiert, diese magischen Zettelchen in die Hände zu bekommen. Mit der kleinen Zeile der Zinserträge auf Sparbuch, die mir wenige Pfennige gutschrieben, konnte ich dagegen nicht so viel anfangen.

Die Enttäuschung legte sich irgendwann wieder. Einige Jahre später bekam ich dann mit meinem ersten Konto bei der Post, die damals noch eine Behörde war und ebenfalls über eine Filiale im Stadtteil verfügte, tatsächlich auch noch einen Block mit Schecks zum Bezahlen ausgehändigt. Aber da war die Hochzeit der Schecks schon vorbei, sie wurden nach und nach durch Karten abgelöst, die sich anfangs noch des Schecksystems bedienten und deshalb teilweise (noch heute, eigentlich zu Unrecht) EC-Karten genannt werden, wobei das C in EC für Cheque steht.

Im Nachhinein kann ich nur froh sein, dass nicht alle meine kindlichen Konsumwünsche damals in Erfüllung gegangen sind. Denn fast ohne Ausnahme sind die erfüllten Konsumwünsche früher oder später der Vernichtung anheim gefallen und haben den Anspruch an nachhaltiges Wirtschaften nicht erfüllt. Und das ist ja, wie wir heute wissen, von entscheidender Bedeutung.

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Fürters Hintergrund

Thorsten Fürter (53) hat Jura und Journalismus studiert. Er ist Mitglied der Lübecker Bürgerschaft und arbeit als Richter am Oberlandesgericht in Schleswig.